Weder im Koalitionsvertrag der Landesregierung, noch in ihren europapolitischen Prioritäten für 2018 und 2019, noch in den Schwerpunkten der Landesregierung zum EMK-Vorsitz Nordrhein-Westfalens taucht die soziale Dimension der europäischen Integration als Schwerpunktbereich auf. Die Landesregierung vernachlässigt so eines der zentralen Politikfelder, das über die Zukunft des europäischen Integrationsprojekts entscheiden wird.
Dabei gibt es auf europäischer Ebene eine Reihe von Initiativen und Beschlüssen, zu deren Umsetzung entschiedenes Engagement auf regionaler Ebene dringend notwendig wäre.
Die Europäische Kommission hat in den letzten Jahren verstärkt die soziale Dimension europäischer Integration auf die Agenda gesetzt. In ihrem „Weißbuch zur Zukunft Europas“ und ihrem „Reflexionspapier zur Sozialen Dimension Europas“ stellt sie die Bedeutung der sozialen Dimension für die Zukunft des Integrationsprojektes heraus. Die so angestoßene Debatte wurde von den EU-Mitgliedstaaten aufgegriffen und mündete 2017 in der Proklamation der „europäischen Säule sozialer Rechte“ (ESSR).
Im Rahmen dieser Proklamation bekennt sich die Europäische Union zu einem Paket von 20 Grundsätzen und Rechten, die den Schutz der Bürgerinnen und Bürger garantieren sollen.
Während die ESSR zunächst als Fortschritt auf europäischer Ebene zu bewerten ist, bleibt ihre endgültige Wirkungskraft aber davon abhängig, wie ihre Umsetzung auf den anderen Ebenen gelingt. Die Europäische Kommission hat im Nachgang zur Proklamation der ESSR als Teil ihres “Social Fairness Package” im März 2018 eine Mitteilung zur Umsetzung der ESSR präsentiert. Darin betont sie, dass ihre Implementierung eine “gemeinsame politische Verpflichtung und Verantwortung” einer Vielzahl von Akteuren auf unterschiedlichsten Ebenen ist. Explizit eingeschlossen sind hier auch regionale Akteure (ebd.).
Eine Vielzahl nichtstaatlicher Akteure, darunter der DGB, spricht sich für eine rasche Umsetzung der Vorschläge der Kommission aus, etwa in Form von konkreten Aktionsplänen.
Von der Landesregierung ist in dieser Hinsicht bedauerlicherweise nichts zu bemerken.
Auch parlamentarische Initiativen wie den Antrag der SPD-Fraktion für eine Stärkung der grenzüberschreitenden sozialen Zusammenarbeit lehnten CDU und FDP zuletzt ab, trotz des breiten Zuspruchs von Sachverständigen in einer vorangegangenen Anhörung am 22.03.2019. Als Begründung verweisen die Koalitionsfraktionen – einmal mehr – auf Kompetenzen der Bundesebene, und erklären gleichzeitig, bei zu starker grenzüberschreitender sozialpolitischer Absicherung bestünde die Gefahr, dass vor allem südeuropäische Staaten ihre Reformbemühungen einstellten.
Der Wille, eigene proaktive Vorschläge für eine bessere grenzüberschreitende sozialpolitische Zusammenarbeit zu entwickeln ist bei der nordrhein-westfälischen Landesregierung nicht erkennbar.
Auf Nachfrage, warum die Landesregierung der sozialen Dimension der Europäischen Union keinen Stellenwert im Rahmen ihrer europapolitischen Agenda einräumt, ignoriert sie die bereits vorhandenen vielfältigen Initiativen zur Harmonisierung der europäischen Sozialpolitik und entzieht sich der Diskussion mit der Argumentation, es bedürfe lediglich einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit (Vorlage 17/2153). Dass sich soziale Ungleichheit durch Ignorieren erledigt, hält die SPD-Fraktion für eine dürftige Herangehensweise. Sie entspricht auch nicht der Ansage der neu gewählten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die der gleichen Partei angehört wie der Ministerpräsident und der Europaminister des Landes. In ihrer Bewerbungsrede als Kommissionspräsidentin hat von der Leyen die Förderung des sozialen Zusammenhalts als wichtiges Kernanliegen der EU vorgestellt. Der Kampf gegen die teilweise hohe Jugendarbeitslosigkeit müsse auf der Agenda der Kommission bleiben; deshalb mache sie sich für die Fortsetzung der Jugendgarantie stark. Ebenso zeigte sie sich offen dafür, dass je nach Region und Branche die Tarifpartner Mindestlöhne aushandeln sollten: „Ich möchte, dass Arbeit sich wieder lohnt. In einer Sozialen Marktwirtschaft sollte jeder Mensch, der Vollzeit arbeitet, einen Mindestlohn erhalten, der ihm einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht.“
Deshalb frage ich die Landesregierung:
1. Warum kümmert sich die Landesregierung nicht darum, soziale Ungleichheit in der Europäischen Union zu bekämpfen?
2. Warum teilt die Landesregierung nicht die Auffassung, dass Deutschland sowie Nordrhein-Westfalen von besseren soziale Bedingungen in den Mitgliedstaaten ebenfalls profitieren werden?
3. Gedenkt die Landesregierung angekündigte Vorhaben der neuen Kommissionspräsidentin zu einer europäischen Rahmenrichtlinie für einen Mindestlohn, eine europäische Arbeitslosenrückversicherung und bereits vorgelegte Pläne für Maßnahmen zur Schaffung einer europäischen Arbeitsbehörde und einer europäischen Sozialversicherungsnummer aktiv zu unterstützen und deren Umsetzung in NRW voranzutreiben?
4. Was hat die Landesregierung bisher unternommen, um die ESSR flankierend zu bundes- und europapolitischen Initiativen in NRW mit Leben zu füllen?
5. Welche Impulse zur Verbesserung der sozialen Konvergenz (in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit) hat die Landesregierung vorzuweisen?
Meine Kleine Anfrage (inklusive Quellenangaben)
Hier könnt ihr die Antworten der Landesregierung einsehen